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Interview mit Christoph Lücker und Tanja Freitag.

Christoph Lücker ist Geschäftsbereichsleiter der Ambulanten Dienste der Lebenshilfe Castop-Rauxel, Datteln, Oer-Erkenschwick, Waltrop e.V. Er hat im Laufe seiner Zugehörigkeit zur Lebenshilfe verschiedene Funktionen durchlaufen und musste sich im Zuge der Veränderungen nicht nur mit einer neuen Rolle auseinandersetzten.

Tanja Freitag ist Abteilungsleiterin der Ambulanten Dienste. Sie kam zur Lebenshilfe, als der Veränderungsprozess schon im vollen Gange war.

Die Ambulanten Dienste war der erste Bereich innerhalb der Lebenshilfe, der angefangen hat sich nach den Prinzipen von New Work auszurichten. Trotz formaler Hierarchien, wird innerhalb der Mannschaft auf Augenhöhe gearbeitet, Abläufe wurden verschlankt, Transparenz hergestellt, Entscheidungen werden innerhalb der Mannschaft getroffen mit dem Ergebnis, dass die Arbeitsabläufe schneller und flexibler sind, so dass mehr Nutzen für den Kunden entsteht.


Als ich die ersten Kontakte mit Dir und Deinen Kollegen hatte, war mein Eindruck, dass Deine Abteilung ein Sammelbecken wird von Aufgaben.  Da wurde alles reingeschüttet, was man woanders nicht so andocken konnte, und dass ihr darüber auch das Profil verloren habt.

Christoph: Das stimmt wohl. Wir haben ein paar Aufgaben selber entwickelt, aber es war ja ganz viel an Kernaufgaben und zusätzlichen Projekten da, die irgendwann bei uns gelandet sind. Oder selbst zu dem Zeitpunkt noch bei uns gelandet sind. Alles ohne eindeutige Zuordnung kam gefühlt unter das Dach der Ambulanten Dienste als Auffangbecken für Projekte und für neue Ideen. Und in der Masse, die wir hatten in dem Wachstum, konnte das im Grunde in der Form nicht mehr gut gehen, weil tatsächlich gar nicht mehr klar war, wo sind Zuständigkeiten, wo sind Schnittstellen oder überhaupt zeitliche Kapazitäten.

 

Der Rahmen war ja riesig, von Projekt X zur langgewachsenen Abteilung Y, das war eine Bandbreite, die im Grunde untereinander schon gar nichts mehr inhaltlich miteinander zu tun hatte und deshalb war’s auch schwierig untereinander und miteinander zu agieren. Inhaltlich wie zeitlich. Gemeinsam für alles verantwortlich zu sein konnte in so einer Bandbreite gar nicht mehr gut gehen, es führte eher zur Vereinzelung. Dass jeder den anderen wertschätzt und sich verantwortlich fühlt für das andere Projekt, wurde ebenfalls schwieriger, je mehr es dann einfach auch wurden.

Christoph Lücker | © Marie-Theres Niessalla

Ihr wart  als Abteilung, oder seid es ja immer noch, die Keimzelle der Lebenshilfe. Hat das in dem Zusammenhang eine Rolle für Euch gespielt, also war da ein besonderer Druck spürbar?

Christoph: Ich kann mit Druck gut umgehen. Aber es war immer offensichtlich, dass wir unter besonderer Beachtung stehen, weil’s einfach ein lange gewachsener Bereich ist. Und Entwicklung abzugeben und in ganz andere Hände zu übergeben, setzt natürlich voraus sich verabschieden zu können und den Gedanken zu entwickeln: „Ich lass jetzt los und übergebe es vertrauensvoll, selbst wenn die das anders machen, das wird schon gut.“ Nämlich „anders machen“ war mitunter ein Problem, „anders machen“ erzeugte nicht nur Diskurs, sondern Reibung.

 

Was waren die größten Herausforderungen für Dich, auch in Deiner Rolle als Geschäftsbereichsleiter?

Christoph: Es gab mehrere. Also eine der großen war tatsächlich den Gestaltungswillen zu haben, etwas Neues zu machen, aber mich gleichzeitig in gewachsenen Traditionen zu befinden und das Gefühl des Verharrens zu erleben.

Durch die nächste Hierarchieebene?

Christoph: Diesen Druck zu wissen, damit kann ich gut umgehen. Aber es ist ja schon schwierig, einerseits vielleicht zwei Schritte nach vorne zu gehen und innovativ agieren zu wollen und gleichzeitig einen gefühlten Schritt gehalten zu werden. Die vielen unterschiedlichen Charaktere in den einzelnen Bereichen waren und sind ebenso eine Herausforderung.

 

Im Großen und Ganzen, sich tatsächlich nicht im Alltag zu verlieren, im Detail, im alltäglichen Abarbeiten, sondern zu schauen: „wo ist das Ganze, wo ist der neue Ansatz.“ Das ist auch weiterhin eine Herausforderung, dass man nicht im Alltag einfach von vielen kleinen Notfallsituationen letztendlich zeitlich aufgefressen wird.

 

Gab es noch mehr Herausforderungen?

Christoph: Ja,die eigene Rolle erst mal zu finden und anzunehmen, weil ich ja mitgewachsen bin über viele Jahre – Zivi, Honorarkraft, Koordinator, Fachbereichsleitung, Geschäftsbereichsleitung – also, es ist ja ein stetiger Weg. Das eigene Profil nochmal zu finden, neu anzunehmen, sich da zu positionieren, „was will ich jetzt eigentlich“. Das ist schon eine Herausforderung. Aber die habe ich gerne angenommen, weil die auch einfach Spaß gemacht hat und reizvoll erschien.

Ja, das hat man Dir angemerkt, das ging alles ratzfatz. Gab’s für Euch in dem Prozess nennenswerte Krisen, wo ihr gesagt habt: „Jetzt fährt das Ding vor die Wand, oder jetzt fallen wir wieder zurück in alte Strukturen“? Oder irgendwelche andere Krisen?

Christoph: Mehrere. Also, bevor wir überhaupt mit Dir in den Prozess eingestiegen sind, war so ein Punkt, an dem ich dachte, das ist zu viel Arbeit für zu wenig Leute. Wo sich zu viel kanalisiert an Aufgaben, an Verantwortlichkeit, bei gleichbleibend stetigem Wachstum. Es kamen immer mehr Klienten, immer mehr Aufträge, immer mehr Anfragen, dadurch immer mehr, klar, auch Notfallsituationen, die gelöst werden mussten.

 

Zudem immer mehr Personal, und die Köpfe blieben erst mal gleich. Und da war irgendwann ein Punkt, an dem ich dachte: „Das geht so nicht mehr.“ Wo ich agiert habe und einfach Vorschläge gemacht habe, wie wir uns aufstellen können bzw. wie wir diese Vision gemeinsam abgesteckt haben und wo wir aufgrund dieses Wachstums auch die Möglichkeiten hatten, das Ganze durchzuziehen und wirklich aufzustocken.
 
Als wir mit Dir dann eingestiegen sind, gab es eine nennenswerteste große Krise. Eine Schlüsselrolle, die nicht besetzt war und Scherben, die aufgeräumt werden mussten. Also wirklich viele Sachen lösen, die liegen geblieben sind, die schlecht gelaufen sind, die berechtigte Kritik und Wut vom Kunden nach sich gezogen haben.

 

Das war eine Krise, aus der wir dann aber wirklich gut hervorgegangen sind. Rückblickend hab‘ ich den Eindruck, dass das nochmal so ein Punkt war, wo es wirklich um’s Zerschlagen ging, aber sofort wieder aufzubauen, weil alle die Köpfe zusammengesteckt hatten, weil jeder in dem Fall wirklich Verantwortung übernommen hat und wir dann Schritt für Schritt mit neuen Ideen, neuen Leuten das aufgebaut haben, was jetzt vorhanden ist und in neuen Strukturen und Arbeitsweisen funktioniert.

 

Das habt ihr mir damals auch so gesagt, dass das letztendlich eine Chance für Euch war. Dass ihr darüber auch nochmal gespürt habt: „Wir können das zusammen schaffen, was Neues aufzubauen“.

Christoph: Genau. Das war nicht nur ein Aufbauen, sondern wirklich auch ein Zusammenrücken. Weil jeder hat auf eine professionelle Art Aufgaben übernommen, es waren ganz schnell Lösungen da, ganz schnell Bereitschaft: „Das machst du, das mach’ ich“. Dieses Gefühl war einfach da. Es wurde nicht delegiert, sondern kam aus dem Team, mit Vorschlägen, Aufteilen und schnellen, engagierten Handlungen. Jeder hat konkret für sich Arbeitsparts übernommen, alles war mit einer nur kurzen Absprache verbunden.

 

Was habt Ihr in dem Prozess als hilfreich und unterstützend erlebt?

Christoph: Hilfreich und unterstützend auf jeden Fall Dein Coaching natürlich, ganz klar. ;-) Wenn ich mit Fragestellungen in die Beratung gekommen bin, war’s so, dass ich im Grunde ein paar Antworten schon für mich herumschwirren hatte. Und ich bin aus den Meetings tatsächlich sicherer rausgegangen, so wie der Weg aussehen kann, aussehen sollte.


Sehr hilfreich war auch, dass dann frische, neue Köpfe da waren, dass wir manche Sachen auch endlich mal abgeschnitten haben, wie zum Beispiel Besprechungsformen, Zuordnungen, Teile des Bereiches in andere Geschäftsbereiche überführt haben, wo es inhaltlich mehr Schnittstellen gab. Es entstand eine Klarheit, wer zählt zu einem Koordinationsteam, wer aber auch nicht, wer hat einfach andere Aufgaben. Das war sehr hilfreich.

 

Neue Leute, mehr Input, mehr Stunden, die zur Verfügung standen, um zu gestalten und nicht immer hinterher zu rennen, sondern wirklich auch mal Zeit zu haben, an gewisse Sachen heranzugehen. Effektiver Austausch war hilfreich, tradierte Besprechungsformen zu kippen ebenso. „Das brauchen wir nicht“ intern zu vertreten war nicht einfach, aber wir haben andere Formen entwickelt, und im Notfall sind wir ganz schnell beieinander.

 

Jetzt kommst Du ins Spiel, Tanja.  Du bist in dem laufenden Prozess dazu gestoßen. Was hast Du vorgefunden, wie hast Du die Situation erlebt?

Tanja: Also, ich hatte schon das Gefühl, dass das eine Abteilung ist, die menschlich sehr stark interagiert, ohne geschlossen zu sein. Ich fand eigentlich am Bemerkenswertesten, dass ich nicht den Eindruck hatte, das ist irgendwie eine Clique, wo man erst mal reinkommen muss, sondern es war wirklich aufgeschlossen, offen. Es war leicht Zugang zu finden, aber es gehörte auch dazu, dass man sich menschlich einlässt.

 

Also, so habe ich das vorgefunden. Viel voneinander wissen, viel sprechen, viel so mal eben mitkriegen und auch eine große Offenheit, all das, was man mitgekriegt hat, auch anmerken zu dürfen. „Ich habe vorhin das Telefonat gehört, wie hast du das und das gemeint, oder hast du das und das besprochen“. Das ist ja jetzt nicht mein erster Arbeitgeber, aber das war durchaus neu für mich.

 

Was hat sich aus Deiner Sicht weiter verändert, seitdem Du gekommen bist? Ein paar Veränderungen hat Christoph schon angesprochen. Aber was würdest Du sagen, was hat sich noch so weiterentwickelt?

Tanja: Ich habe den Eindruck, dass das, was so lose funktioniert hat, seinen Namen und seine Berechtigung stärker bekommen hat. Also, dass ich den Eindruck hatte, am Anfang gab es eben viele Flur- bzw. Tür-und-Angel-Gespräche. Die waren gut und sie wurden aber dann später auch in eine Form gegossen und so benannt, dass es nach meiner Empfindung greifbarer wurde.
 

Wie trefft Ihr Entscheidungen? Ich bin an einer Sache dran, kann ich selber entscheiden oder muss ich immer in Rücksprache mit Euch gehen, also wie weiß ich, wie weit mein Entscheidungsspielraum geht und wie weiß ich, wo ich Euch oder wen auch immer fragen muss?

Tanja: Also, ich empfinde es so, dass das keine formale Ebene hat, also es hat nichts von: Ich würde gerne so entscheiden, darf ich? Sondern eher etwas von: Ich würde das gerne so machen, was meinst du dazu? Und das findet im Grunde immer statt. Das hatten wir ja auch oft im letzten Workshop benannt.

 

Wie viel darf ich fragen, ohne demjenigen auf die Nerven zu gehen, und dass es diesen Punkt im Grunde nicht gibt. Es gibt nicht diesen Punkt genervt zu sein, sondern es ist immer ein großes Willkommen. Sag‘ ruhig wo du gerade dran bist, was sind gerade die Prozesse, oder ich erzähle dir mal kurz vom letzten Telefonat.

 

Das hat nicht den Anschein von „um Erlaubnis fragen“ oder dann wird eine Entscheidung gefällt. Wir entwickeln gemeinsam vielleicht eine Haltung, oder derjenige hat dann eine Haltung insoweit, dass er dann eine Entscheidung fällen kann und gleichzeitig eben das Gefühl „okay, ich hab’s Euch auch erzählt“ vorhanden ist.

 

Okay. Gibt es aus Eurer Sicht noch irgendwas, wo Ihr sagt: das würde ich jetzt gerne nochmal los werden zu dem Thema „Aufbruch, Umbruch, unser Prozess, unsere Entwicklung“?

Christoph: Ich bin glücklich darüber, dass wir uns verändert haben und wie wir uns verändert haben. Und dass es tatsächlich einen Aufbruch gegeben hat und nicht einen Zusammenbruch, der vielleicht eine Folge gewesen wäre, wenn wir weitergemacht hätten wo wir irgendwo mal standen und dann halt überrannt worden wären von Ereignissen, von Entwicklung, von Wachstum.

 

Ich bin froh, dass wir es geschafft haben uns auf den Weg zu begeben, uns anders zu strukturieren, bestimmte Dinge abzuschneiden, loslassen zu können und nun einfach in dieser Entwicklung weitergehen, denn sie ist noch nicht abgeschlossen. Wir entwickeln weiterhin Ideen, strukturieren neu, also im Grunde befinden wir uns weiterhin in Entwicklung, aber jetzt mit einem anderen Bewusstsein, als ich das noch 2015/2016 hatte.